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(München, 16. März 2021) Wilhelm Füßl ist der Herr über 4,7 Regalkilometer. So viel Platz brauchen die Schätze im Archiv des Deutschen Museums, eines der bedeutendsten Spezialarchive für Wissenschaft und Technik. Seit genau 30 Jahren arbeitet der gebürtige Oberpfälzer im Deutschen Museum, seit 29 Jahren ist er Leiter des Archivs. Weiße Handschuhe zum Schutz der kostbaren Archivalien gehören bei ihm zum Handwerkszeug – und ein begnadeter Geschichtenerzähler ist er auch. Er hat viel zu erzählen – über Oskar von Miller, das Deutsche Museum und über seine eigene Jagd auf Nachlässe bedeutender Forscher und Erfinder. Ende März geht Füßl in Rente – und er hat noch eine Menge vor.

Das Archiv unter dem Dach des Bibliotheksgebäudes war Wilhelm Füßls kilometerlanges Reich. Der Bestand von Archivalien wird nämlich in Regalmetern gemessen: einen Meter breit, 30 cm hoch und 30 cm tief – und das mal 4700. Darin Briefe von Einstein, massiv goldene Nobelpreis-Medaillen wie die von Ferdinand Braun, Konstruktionszeichnungen von Otto Lilienthal, Oskar Salas Tonbänder, auf denen die Vogelschreie aus Hitchcocks Film "Die Vögel" sind, oder die ersten Fotos von München. All das wird hier aufbewahrt, geordnet und erforscht. Über eine Milliarde Euro sind die dort verwahrten Dokumente wert, hat Füßl selbst einmal ausgerechnet. Und er hat „sein“ Archiv immer gern hergezeigt: „Denn diese Zeitdokumente gehören in die Öffentlichkeit und haben eine große Bedeutung für die Gesellschaft“, lautet Füßls Credo.

Der 65-Jährige hat viele Nachlässe für das Archiv des Deutschen Museums eingeworben. Darunter so bedeutende wie die von Flugpionier Otto Lilienthal, Computerpionier Konrad Zuse oder eben von Sala. Oder das Tagebuch von Max Valier – an dem noch Blut des Raumfahrtpioniers klebt, der 1930 bei einer Raketentriebwerks-Explosion ums Leben kam. 175 Nachlässe waren es am Ende seiner Dienstzeit. Allein das Sala-Archiv nimmt 31 Meter in den Regalen ein. „So etwas fachlich gut zu ordnen, dauert Jahre“, sagt Füßl. Am längsten verhandelt hat Füßl übrigens um den Nachlass von Otto Lilienthal – zehn Jahre lang! „Aber auch die Nachlässe von Zuse, den Physikern Ernst Mach und Philipp Lenard und die geheimen deutschen Atomdokumente waren spannend.“

Angefangen hat Wilhelm Füßl im Forschungsinstitut des Museums. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Arbeitstag. „Ich saß an einem leeren Schreibtisch, hatte noch nicht einmal einen Bleistift und wusste gar nicht, womit ich anfangen sollte“, erzählt er und lacht. Nach seiner Promotion in Geschichte und anschließenden kurzen Ausflügen an die Universitätsbibliothek München und ins Bayerische Hauptstaatsarchiv war er ins Deutsche Museum gekommen. „Mein Doktorvater hat mich auf die Stelle am Deutschen Museum aufmerksam gemacht – ich wollte da ja eigentlich nie hin. Beworben habe ich mich trotzdem. Dann saß ich im Vorstellungsgespräch vor zehn Leuten: dem damaligen Generaldirektor und den Professoren des Forschungsinstituts.“ Und Füßl bekam den Job. Eine befristete Stelle. Jetzt ist er schon 30 Jahre im Haus.

„Ich wurde damals schon angestellt mit der Perspektive, eine Biografie des Museumsgründers Oskar von Miller vorzubereiten. Wohlgemerkt: vorzubereiten. Vom Schreiben war damals noch nicht die Rede.“ Aber von Miller faszinierte Füßl: „Er hat aus nichts etwas gemacht, er hat wirklich etwas geleistet. Er wollte hier auf der Museumsinsel ein Zentrum für Wissen und Kultur errichten. Und das hat er auch geschafft.“ Füßls große Biografie von Millers erschien 2005, und Füßl war im Laufe der Recherchen oft bei den Nachfahren von Millers am Starnberger See zu Besuch. Eins der Türmchen der Miller-Villa war für ihn und seine Studien reserviert. „Die Millers waren immer sehr gastfreundlich: Wenn man schon mal da war, wurde man auch zum Mittagessen eingeladen. Der Nächste, der zufällig vorbeikam, auch. Und so waren nicht selten zwölf bis 15 Menschen beim Mittagessen zu Gast – zur Verzweiflung der Haushälterin. Am Ende gab’s dann halbe Wiener Würstchen, aber hungrig ist trotzdem niemand heimgegangen.“

Füßls selbstgewählte Aufgabe, nachdem er die Leitung des Archivs übernommen hatte: „Mir war von Anfang an klar, dass ich auch die Geschichte des Museums erzählen muss. Ich holte unsere eigenen Verwaltungsakten ins Archiv – das waren „nur“ Verwaltungsakten, aber eben auch schon fast 100 Jahre alt. Und mir war klar, dass man zum 100. Geburtstag des Museums im Jahr 2003 etwas Besonderes würde machen müssen.“ Dabei ging er weit darüber hinaus, was man in einem Archiv so macht. Er schrieb mit seinem Kollegen Helmuth Trischler eine Geschichte des Museums, und er konzipierte eine Ausstellung zur Museumsgeschichte, die direkt neben dem Ehrensaal des Museums ihren festen Platz gefunden hat. Eine CD-ROM gab es obendrauf.

Auch diese Ausstellung ist das Werk des Geschichtenerzählers. Die nachgebildeten Pfähle, auf denen der Museumsbau steht, sind seine Idee – realisiert in den Werkstätten des Museums. Oder die „Drahtbuchheftmaschine“, die ebenfalls in der Museumsgeschichte zu sehen ist. Die war eigentlich für die Drucktechnik-Ausstellung des Museums bestimmt. Die Handwerksspezialisten des Museums hatten aber keine Idee, wie so etwas aussieht. Und früher konnte man ja auch nicht mal eben im Internet nachschauen. Mitarbeiter des Museums fanden dann ein historisches Vorbild in der Schweiz auf einem Dachboden, fuhren dort hin, machten 600 Aufnahmen. Anschließend wurden in den Werkstätten des Museums vier Maschinen rekonstruiert.

Füßl erzählt: „Dann kam der damalige Kurator für den Starkstrom und legte dar, dass mit so einer Transmission nie im Leben vier Maschinen hätten betrieben werden können. Höchstens drei, hatte er berechnet.“ Füßl lacht, wie er überhaupt gerne lacht. „Mich hat diese Akribie belustigt, aber auch fasziniert. Jedenfalls: Die vierte, übriggebliebene Drahtbuchheftmaschine – allein dieses Wort – die ist in der Museumsgeschichte gelandet.“

Sein Lieblingsstück im Archiv? Das ist das „Spionagetagebuch“, ein Skizzenbuch von Georg von Reichenbach. Der Münchner Ingenieur ist als junger Mann im Jahr 1791 nach England gefahren und hat dort Industriespionage im Auftrag der bayerischen Regierung betrieben. Vor allem die Dampfmaschinen von James Watt hatten es ihm angetan. Er verschaffte sich heimlich Zugang zu englischen Fabriken, mutmaßlich mit Bestechung in Form von Whiskey. Heute sind die Reichenbachstraße und die Reichenbachbrücke in München nach ihm benannt. Eine steile Karriere für einen Ex-Spion. Solche Geschichten gefallen Füßl.

Und Geschichte(n) wird er weitererzählen, auch wenn er nicht mehr im Deutschen Museum arbeitet. Er wird Bücher schreiben: Zum Beispiel eines über den ersten Mitarbeiter Oskar von Millers, an den heute noch eine Ehrentafel im Museum erinnert: Arthur Schönberg, ein Cousin des Komponisten. Der Ingenieur kam 1943 im KZ Theresienstadt ums Leben. „Langweilig wird mir auch im Ruhestand nicht“, sagt Füßl, der noch weitere Veröffentlichungen plant.

Ende Mai geht Füßl in Rente, ab Ende März ist er in Urlaub. Dann wird er mit seinem Auto für immer vom Hof des Museums fahren. Sein Nummernschild ist übrigens, ganz beziehungsreich, „M-DM 1903“. Das DM steht natürlich für Deutsches Museum, 1903 für das Gründungsjahr. Die Verbundenheit zum Museum wird Füßl bleiben: „Das Kennzeichen gebe ich erst her, wenn ich meinen Führerschein abgeben muss.“

Bild 1/2

Der Herr über das Archiv mit 4,7 Regalkilometern: Wilhelm Füßl geht nach 30 Jahren Arbeit für das Deutsche Museum in Rente.

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Foto: Deutsches Museum

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Bild 2/2

Wilhelm Füßl im Archiv mit einem seiner Schätze, einem Plan zur Hebung des Bodenseedampfers „Ludwig“ von Wilhelm Bauer. Die kolorierte Handzeichnung stammt aus dem Jahr 1857.

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Foto: Deutsches Museum

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