
Bild: Deutsches Museum
Das geheime Atomprogramm der Nazis
Für sein neues Buch "Hitlers Atombombe" hat Mark Walker die Dokumente aus der NS-Zeit im Archiv des Deutschen Museums untersucht.
Morgen vor genau 80 Jahren ist auf einem Militärgelände in den USA zum ersten Mal eine Atombombe explodiert. Wenig später starben bei den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki Hunderttausende Menschen. Parallel zu den US-Amerikanern arbeiteten auch die Nazis an einem Atomprogramm. Allerdings ohne „Erfolg“. Die Frage, warum das deutsche Atomprogramm „gescheitert“ ist, treibt Wissenschaftler seit Jahrzehnten um. Jetzt liefert Mark Walkers neues Buch „Hitlers Atombombe“ Antworten. Die basieren auch auf den jahrelang geheim gehaltenen Dokumenten dieses NS-Atomprogramms, die heute im Archiv des Deutschen Museums verwahrt werden.
Die Dokumente wurden bei Kriegsende von einem geheimen US-Spezialkommando mit dem Tarnnamen „Alsos“ in Deutschland beschlagnahmt, in die USA gebracht, verfilmt und ausgewertet. Sie umfassen im Archiv des Museums rund 11.600 Seiten. Zuerst als streng geheim eingestuft, kamen sie 1970 nach Deutschland, seit 1998 liegen sie in München. Ohne diese Dokumente hätte der US-Historiker Mark Walker nie seine Dissertation über das deutsche Atomprogramm geschrieben. Jetzt hat er mit „Hitlers Atombombe“ sein Lebenswerk zum Abschluss gebracht – und das Buch liest sich streckenweise wie ein Krimi, der viele grundsätzliche Fragen der Wissenschaft berührt.
Zu den Dokumenten, die von der „Alsos“-Mission gefunden wurden, gehörte auch ein Bericht des deutschen Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker aus dem Jahr 1940, der heute im Archiv des Deutschen Museums verwahrt wird: „Eine Möglichkeit der Energiegewinnung aus 238U“ (Uran-238). In diesem Bericht wird der nukleare Sprengstoff Plutonium erstmals in Deutschland erwähnt. Er war für die Forschungsabteilung des Heereswaffenamts bestimmt, trägt einen „Geheim“-Vermerk der Deutschen und „Secret-“, „Restricted data“- und „Caution“-Stempel der Amerikaner. Erst Jahre später wurden die Unterlagen freigegeben.
Mark Walker konnte sich aber in seinem neuen Buch nicht nur auf das Archivmaterial des Deutschen Museums stützen, sondern auch auf die Niederschriften der Farm-Hall-Vernehmungen. Auf dem englischen Landsitz Farm Hall waren die deutschen Wissenschaftler wie Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, aber auch Otto Hahn interniert, die etwas mit dem Atomprogramm zu tun hatten. Ebenso hat Walker die in russischen Archiven wiedergefundenen Dokumente aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik analysiert. Das Institut arbeitete unter Heisenberg am deutschen Atomprogramm. Außerdem lag Walker der Briefwechsel zwischen Heisenberg und dessen Frau vor.
Das akribisch recherchierte Buch ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung – und räumt mit vielen Irrtümern und Unklarheiten auf. Am Ende hat Walker auch eine Antwort auf die Frage, warum die Deutschen keine Atombombe gebaut haben. Man muss dazu wissen, dass diese Frage seit Jahrzehnten unter Wissenschaftlern heiß diskutiert wird: Manche glauben, Werner Heisenberg habe die Funktionsweise einer Atombombe nie richtig verstanden, andere meinen, die deutschen Wissenschaftler um Heisenberg und Weizsäcker hätten die Bombe der NS-Militärführung bewusst vorenthalten – eine Legende, an deren Verbreitung Heisenberg und Weizsäcker in Robert Jungks berühmten Buch „Heller als 1000 Sonnen“ mitgewirkt haben.
Besonders lange hielt sich das Gerücht, Heisenberg und Weizsäcker hätten den dänischen Physiker Niels Bohr für ihren Plan gewinnen wollen, den Bau von Atombomben weltweit zu verhindern. Auch mit dieser Legende räumt Walker auf. „Während der Phase des Blitzkrieges benötigten die Deutschen keine neuen Waffen mit hoher Zerstörungskraft. In der Endphase des Krieges war die deutsche Industrie nicht mehr dazu in der Lage, eine Atombombe zu bauen“, sagt Walker. Heisenberg habe den Bau eines Atomreaktors – einer „Uranmaschine“, wie die Deutschen damals sagten –, vorangetrieben und ihn als Antrieb zum Beispiel für U-Boote ins Spiel gebracht. Gleichzeitig waren die deutschen Forscher aber bemüht, bei den Machthabern immer den Eindruck zu erwecken, der Bau einer Atombombe sei grundsätzlich möglich – um sich Ressourcen zu sichern, aber auch, um zu verhindern, dass man an die Front geschickt wurde.
Großen Raum nimmt in dem Buch die Frage ein, welche Rolle die Gespräche von Heisenberg und Weizsäcker mit Bohr in Dänemark im Jahr 1941 gespielt haben. Heisenberg erweckte bei Bohr den Eindruck, dass die Deutschen an einer Atombombe arbeiteten, was mit dazu beigetragen haben dürfte, dass die US-Amerikaner aus Angst vor einer deutschen Bombe ihre eigenen Arbeiten intensivierten.
Andererseits will Heisenberg bei seinem Besuch in Dänemark versucht haben, grundsätzlich auf einen internationalen Pakt der Wissenschaftler gegen den Atombombenbau hinzuwirken. Walker glaubt aber, dass Heisenberg – angesichts der Aussichtslosigkeit der deutschen Bemühungen – dadurch vor allem verhindern wollte, dass eine Atombombe auf Deutschland abgeworfen wird. Ebenso erweckte Heisenberg den Eindruck, als hätten er und die beteiligten deutschen Wissenschaftler niemals zugelassen, dass die Nazis Atombomben in die Hände bekommen.
Große Teile des Buches widmen sich solchen Geschichtsklitterungen der Protagonisten – aber ohne moralisierenden Tonfall. Walker ist stets um große Sachlichkeit bemüht und hütet sich vor Zuspitzungen. Er beleuchtet die ganz großen wissenschaftsethischen Fragen, aber auch die Geschichte, wie Heisenberg im Chaos des Kriegsendes versucht, zurück zu seiner Familie nach Urfeld am bayerischen Walchensee zu kommen, liest sich sehr spannend.
Gerade diese Mischung aus großen und kleinen Geschichten machen den Reiz des Buches aus. Die Intrigen innerhalb der NS-Wissenschaftswelt werden ebenso beleuchtet wie die Rolle Albert Speers – oder die Tatsache, dass es nur einen einzigen schriftlichen Beleg gibt, dass Hitler selbst über das Atomprogramm im Bilde war. Am Ende drängen sich viele „kontrafaktische“ Fragen auf: Hätte es die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gegeben, wenn es die Angst vor Hitlers Atombombe nicht gegeben hätte? Was wäre geschehen, wenn das NS-Militär tatsächlich eine Atombombe in die Hand bekommen hätte? Es sind Fragen, die einen schaudern lassen.
Mark Walker: Hitlers Atombombe
Geschichte, Legende und das Erbe von Nationalsozialismus und Hiroshima
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Thorsten Schmidt
Reihe: Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte
Neue Folge; Bd. 38
476 S., 36 Abb., geb., Schutzumschlag, 14 x 22,2 cm
ISBN 978-3-8353-5789-1
€ 39,00 (D) / € 40,10 (A)
Hier finden Sie die digitalisierten Dokumente zum Deutschen Atomprogramm 1938 - 1945 aus dem Archiv des Deutschen Museums.

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Autor Mark Walker (re.) mit Archivleiter Matthias Röschner im Archiv des Deutschen Museums.
Frei zur Veröffentlichung nur mit dem Vermerk
Foto: Deutsches Museum

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Die Dokumente im Archiv des Deutschen Museums bekamen in der Nazizeit den Stempel „Geheim“, später von US-Amerikanern die Stempel „Secret“, „Restricted Data“ und „Caution“.
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Foto: Deutsches Museum

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Bild 3/6
Das wahrscheinlich erste Foto eines deutschen Kernreaktors.
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Reproduktion: Archiv Deutsches Museum

Bild: Deutsches Museum | Hans-Joachim Becker
Bild 4/6
Die erste Seite des Textes “Eine Möglichkeit der Energiegewinnung aus 238U.” von Carl Friedrich von Weizsäcker aus dem Jahr 1940.
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Foto: Deutsches Museum Archiv

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Bild 5/6
Die erste Seite eines Texts von Otto Hahn über die Spaltung von Urankernen.
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Foto: Archiv Deutsches Museum

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Bild 6/6
“Hitlers Atombombe”: Das Cover des neuen Buchs von Mark Walker.
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