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Vitruvs „De architectura libri decem“ war das einzige aus der Antike überlieferte Werk der Architekturtheorie und bildete eine einflussreiche Grundlage für die Architektur der Neuzeit.

Marcus Pollio Vitruvius (um 84–um 27 v. Chr.), ein römischer Militärtechniker und Ingenieur, verfasste mit „De architectura libri decem“ (dt.: „Zehn Bücher über die Baukunst“) das einzige aus der Antike überlieferte Werk der Architekturtheorie. Dieses Werk soll es dem Leser ermöglichen, Bauwerke zu errichten, ihm aber auch helfen, sie zu beurteilen und zu bewerten. Die zehn unterschiedlich gewichteten Bücher oder Kapitel behandeln die historischen, ästhetischen und technischen Grundlagen der Architektur ebenso wie den Bau von Tempeln und Wohnhäusern sowie den Städtebau. Im neunten und zehnten Buch werden mit der Zeitmessung und dem Bau von Maschinen weitere Felder behandelt.

Den Schreibschulen und Klosterbibliotheken des Mittelalters ist es zu verdanken, dass das Werk überliefert wurde. Über 50, zum Teil illustrierte Vitruv-Handschriften – die älteste stammt aus dem 9. Jahrhundert – blieben erhalten. Dies zeigt die große Bedeutung, die dem Autor zuerkannt wurde, ohne dass er jedoch auf die romanische und gotische Architektur einen erkennbaren Einfluss ausgeübt hätte. Für die Baupraxis des Mittelalters dürften jedoch die in „De architectura“ zu findenden Darstellungen zur Bautechnik Bedeutung gehabt haben, was die große Zahl an Abschriften erklären würde. Erst mit der Rückbesinnung auf die Antike zur Zeit der Renaissance hat Vitruvs Werk wieder an Einfluss auf die Architekturästhetik selbst gewonnen und war in den folgenden Jahrhunderten das für die Baukunst der europäischen Neuzeit grundlegende Werk.

Bereits 1486, also noch in der Inkunabelzeit, erschien in Rom eine erste gedruckte Ausgabe, die jedoch, ebenso wie die zwei folgenden Ausgaben aus dem 15. Jahrhundert, keine Abbildungen enthielt. Die Veröffentlichung der ersten illustrierten Ausgabe, die gleichzeitig die Wiederherstellung des authentischen lateinischen Textes zum Ziel hatte, ist das Verdienst des Architekten und Dominikanerpaters Giovanni Giocondo, der auch am Bau des Petersdoms beteiligt war. Gedruckt wurde sie 1511 von dem auch als Johannes de Tridino bekannten Drucker Giovanni Tacuino in Venedig. Die 136 eher grob wirkenden Holzschnitte fertigte Giocondo vermutlich selbst an, wobei ihn der als Optiker bekannte Giovanni Marco da Landinara unterstützte. Diese seltene Ausgabe besitzt die charakteristischen Merkmale eines Buches der Frühdruckzeit: große Holzschnittinitialen zu Beginn der einzelnen Bücher, das Fehlen der Seitenzählung und die in den Handschriften des Mittelalters üblichen Ligaturen. Von dieser vierten Vitruv-Ausgabe Giocondos gingen alle späteren Vitruv-Ausgaben aus.

Die Übersetzungen ins Italienische (1521), Spanische (1542), Französische (1542) und Deutsche (1548) waren für die Wirkung Vitruvs entscheidend, da viele Architekten mit dem Lateinischen kaum vertraut waren und erst jetzt das Werk studieren konnten. Wurden die frühen Vitruv-Ausgaben noch in Latein herausgegeben, so erschien 1521 in Como ein erster italienischer, nun auch kommentierter Druck. Dessen Illustrationen dienten wiederum der 1548 erschienenen frühesten deutschen Ausgabe zumindest als Vorbild, wurden zum Teil aber auch direkt übernommen. Den „Vitruvius Teutsch“ bearbeitete und übersetzte der Apotheker Walther Hermann Ryff (um 1500–1548). Gedruckt wurde das Buch in Nürnberg von Johann Petreius, einem der bedeutendsten Drucker der Frühdruckzeit. Die im Deutschen Museum ebenfalls vorhandene Ryff'sche Vitruv-Ausgabe blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die einzige Übersetzung ins Deutsche und hat das Bauwesen in Mitteleuropa nachhaltig beeinflusst.

Literatur:

Architektur-Theorie von der Renaissance bis zur Gegenwart – 89 Beiträge zu 117 Traktaten, in Zusammenarbeit mit der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin [Projektleitung: Petra Lamers-Schütze]. Köln u.a. 2003. Zum Katalogeintrag

Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie von der Antike bis zur Gegenwart. 5. Aufl.. München 2004. Zum Katalogeintrag